Jahresrückblick 2019 – Ein Jahrzehnt geht zu Ende

Jahresrückblick 2019 – Ein Jahrzehnt geht zu Ende

Wenn man an 1990 denkt, ist das gefühlt eben gerade gewesen, gedanklich ist man noch sehr nah an Britney und den 2000ern, die soeben noch im Schulmädchenoutfit über den Bildschirm gehüpft ist, während sich Christina im Video zu „Dirrty“ lasziv im Käfig räkelte. Daneben gab es natürlich auch durchaus positive Entwicklungen mit Alter Bridge, einigen Placebo-Alben, Billy Talent oder auch Tenacious D.

Doch dazwischen liegen nunmehr fast 20 Jahre Musikgeschichte, deren letzte zehn ziemlich turbulent waren. Es war alles geboten: Fehlgriffe, schlechte Musik, wahrliche Verluste und das Hervorbringen wirklicher Talente.

Es war eine oft sehr traurige Dekade, in welcher sich viele einflussreiche Lieblingsmusiker für immer aus den Konzertsälen und Tonstudios verbschiedet haben, aber dennoch mit ihren Werken weiterleben. Eine kleine Auswahl an Künstlern wollen wir an dieser Stelle ehren, aber natürlich nur stellvertretend für viele andere.

Im Mai 2010 nahm die globale Heavy Metal-Gemeinschaft Abschied von Urgestein Ronnie James Dio, welcher unter anderem die Neusortierung der Genredinosaurier Black Sabbath begleitet hatte und mit seinen hochtönenden Gesangsorgasmen mindestens zwei Generationen der härteren Musik beeinflusst hatte.

Im Folgejahr durfte die Weltöffentlichkeit voyeuristisch am Untergang der Amy Winehouse teilhaben. Unter einem Tarnumhang aus Glanz und Gloria hatte sich ein junger, über alle Maßen talentierter und doch zutiefst traumatisierter Mensch verborgen. Die hässlichste Fratze der stets Druck aufbauenden Unterhaltungsindustrie nahm im Untergang der großartigen Sängerin Gestalt an und alle Außenstehenden konnten mittels medialer Sensationsgeilheit davon kosten. Fast geräuschlos und sehr bescheiden musste man im selben Jahr auch den Tod von Bluespionier Gary Moore hinnehmen.

Ein weiteres Opfer der Geldmaschinerie erlag im Februar 2012 seiner Drogensucht und einer Herzkrankheit. Mit Whitney Houston verlor die Welt eine der vielseitigsten Soulstimmen und stete Begleiterin durch die 80er und 90er Jahre. We will always love you. Robin Gibb – ein Drittel der Bee Gees – hatte seit vielen Jahren schon an Krebs gelitten, ehe auch er am 20. Mai 2012 an den Folgen seiner Erkrankung verstarb. Von den Bee Gees werden neben Diskohits wie „Night Fever“ natürlich auch die formgebenden Flasettstimmen auf ewig in Erinnerung bleiben. Aus früheren Zeiten, der Entstehungsgeschichte der Rockmusik, verabschiedeten sich auch Jon Lord (Gründungsmitglied von Deep Purple) als auch Beatles-Mentor während deren Indientrips, Ravi Shankar. Immerhin hat dieser Mann die Sitar in den populären Psychedelic Rock gebracht (Anspieltipp: „Painted Black“ von den Rolling Stones).

Auch im Jahr 2013 traten zwei Ikonen der frühen Rythm´n´Blues bzw. der Avantgarde-Künstler die Heimreise an. Ray Manzarek hatte im Sommer 1965 zusammen mit einem gewissen Jim Morrison wohl einen LSD-Trip eingeworfen und infolge dessen waren die beiden am Venice Beach, Kalifornien auf die folgenschwere Idee gekommen, eine Band namens The Doors zu gründen. Manzarek spielte die Hammondorgel wie ein Großmeister, erinnerte dabei oft an Jahrmarkt und Geisterbahn. Ebenfalls Mitte des Hippie-Jahrzehnts trat auf der anderen Seite der USA in New York City ein etwas verspulter Popart-Künstler, bekannt als Andy Warhol ins Rampenlicht. Eine feste Größe in seiner Entourage war damals Lou Reed mit seiner Band The Velvet Underground. Die Texte handelten oft von verbotenen Psychopharmaka, von welchen Reed laut eigener Aussage aber nie genascht hatte. Nach dem Ende von VU hinterließ Lou Reed ein beachtliches Solowerk und selbst mit Metallica kollaborierte er noch im hohen Alter. Ein Teufelskerl auf der wilden Seite.

“Vielen Dank für die Blumen” sagte man anno 2014 zum Abschied zu Udo Jürgens, Jack Bruce, Pete Seeger und Joe Cocker. Ohne diese Männer hätte es guten Schlager, Eric Clapton als Superstar nach Cream, Folkmusik und Liedermacherei nie und einen Beatles-Hit auf „St. Pepper“ weniger gegeben.

Ende 2015 erschütterte die Nachricht von Lemmy Kilmister´s Tod nicht nur die Metal-Gemeinde nachhaltig. Immerhin ist mit ihm eine echte Marke, auch außerhalb diverser Schubladen bekannt, in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Wer sein letztes Konzert überhaupt (übrigens im Münchner Zenith) verpasst hat, kann dies auf der Blue Ray „Clean Your Clock“ bis zum Abwinken nachholen. Ebenso wenig überraschend klopfte der Sensenmann an die Tür von Scott Weiland. Daß dieser Mann schlicht und ergreifend der beste Sänger aus der 90er Grunge-Ära war und bleibt, wird vielen Lesern vielleicht nicht bekannt sein. Ein Studium des Gesamtwerks seiner Hauptband Stone Temple Pilots sowie das Mitwirken bei Slash´s Velvet Revolver wird hier sicherlich Aufklärungsarbeit leisten. In jedem Fall ist Weiland viel zu früh von uns gegangen. Sein Leben gelebt hatte indes B. B. King, er zählte immerhin fast volle 90 Jahre, als er am 14. Mai verstarb. Dieser Blues-Pionier brachte Millionen von Gitarristen überhaupt auf die Idee, ihren Instrumenten Namen zu geben, nachdem seine Gibson auf Lucille getauft worden war.

Das Jahr 2016 hinterließ bittere, weiße Flecken auf den Talentkarten von noch nicht einmal geborenen Newcomern. Immerhin beeinflussten David Bowie, Prince und Leonard Cohen nachhaltig das Geschick mehrerer Musikergenerationen und die Entwicklung im Hörverhalten jugendlicher Genrepfadfinder. Völlig unerwartet verabschiedeten sich auch der Deutsche Swingstar Roger Cicero und George Michael. Das ausgerechnet „Last Christmas“ sein größtes Vermächtnis bleiben wird, ist nach großartigen, gemeinsamen Auftritten mit den verbleibenden Mitgliedern von Queen fast schon ein Frevel.

Zwei Jahre ist es erst her, als AC / DC den Mann im Hintergrund, Malcolm Young verloren. Außerdem traten im Jahr 2017 auch Fats Domino, Chuck Berry und Chester Bennington ihre jeweils letzte Reise an. Letztgenannter folgte dabei seinem Freund Chris Cornell, welcher eine blutig klaffende Wunde im Herzen eines nahezu jeden musikliebenden Menschen hinterließ. Eine Welt ohne Soundgarden oder Audioslave bleibt etwas grauer. Tom Petty lernte im selben Jahr übrigens nach einer Überdosis an Schmerzmitteln das Fliegen und auch sein Wirken wird schon jetzt schmerzlich vermisst.

Seit 6. Oktober 2018 kann Freddy Mercury nun mit seiner Herzensmusikerin Montserrat Caballé wieder gemeinsame Arien vom Himmel herunter schmettern und die Vorstellung, dass die beiden – immer dann, wenn die Sonne besonders lange am Himmel steht, zusammen „Barcelona“ singen, ist nicht nur für Queen Freunde sicherlich tröstlich. Eine besonders schöne Ehrung erfuhr Mercury übrigens in dem Film „Bohemian Rhapsody“ welcher ausnahmsweise mal gar nicht reißerisch einen Teil seines Lebens und Queen auf die Leinwand brachte. Aber auch Aretha Franklin und Cranberries Frontfrau Dolores O´Riordan mussten sich vorletztes Jahr in der Liste der leider Verstorbenen verewigen lassen.

Dieses Jahr nahm einer der wirklichen Könner am Drumkit den letzten Schluck „Strange Brew“ und mit dem ewig grantelnden Ginger Baker steigt die nun wirklich letzte Chance auf eine ganz kleine Cream- oder Blind Faith-Reunion in den Himmel auf. Hoffentlich bleibt der Welt Eric Clapton noch viele Jahre erhalten. Völlig überrascht wurde man vom Abgang des Prodigy-Verrückten Keith Flint. Auch diejenigen, die noch mit guten alten Zeichentrickserien aufgewachsen und den Biene Maja Introsong heute noch gerne unter der Dusche trällern, hat Karel Gotts Tod mit Sicherheit erschüttert. Zuletzt musste auch Marie Fredriksson sich ihrer schweren Krankheit beugen. Kaum ein – in den 90ern aufgewachsener – Teenager saß nicht schmachtend vor der Flimmerkiste, als Marie zusammen mit Roxette barfuß auf der Bühne stand und „Listen To Your Heart“ in den Himmel hauchte.

Einige Bands verabschiedeten sich zuletzt mittels ausschweifender weltumrundender Touren aber auch freiwillig in den Ruhestand und so durfte man ein letztes Mal Konzerte von Slayer, Kiss oder Phil Collins besuchen, während andere nicht ohne Hilfe von der Bildfläche verschwinden wollen (Guns N´Roses, The Rolling Stones, Bob Dylan). Wieder andere Acts kehrten aus der Versenkung zurück und man wünscht sich, dass sie noch sehr lange bleiben werden (Iron Maiden, Tool).

Die vergangenen zehn Jahre waren bunt und wild: Irgendwie lechzte alles danach, dass etwas Neues entstehen musste, und doch blieb man sich treu.

Ed SheeranAls wohl größten Newcomer muss man Ed Sheeran nennen, der zwar schon vorher viel Musik gemacht hat, aber erst sehr viel später Beachtung fand. Mit seinem Straßenmusikerstil hat es der Brite bis hin zu ausverkauften Stadien geschafft.

claireDoch nicht nur Großbritannien hat starke Newcomer zu vermelden: Auch in Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren Einiges getan – so sind das auf jeden Fall Claire, die mit ihrem unverwechselbaren Elektropop für wahnsinnig viel Aufsehen sorgten. Gleiches gilt für Milky Chance aus Kassel, die mittlerweile weltweit Konzerte geben und mit ihrer verträumten Musik zu begeistern wissen. Ganz zu schweigen natürlich vom Rapper Capital Bra (ob man ihn nun feiert oder nicht – irgendwas hat er, das einen fesselt).

AnnenMayKantereitAuch Billie Eilish, die mit ihrer Musik seit dem vergangenen Jahr die Charts besingt und für Schlagzeilen sorgt, kann sich einreihen in eine erfolgreiche Riege derer, die mit ihrer Musik zu begeistern wissen. Wir möchten hier noch ein paar Namen nennen, welche die letzten zehn Jahre extrem bereichert haben: Birdy, London Grammar, Kovacs, King Krule, George Ezra, OK Kid, Woodkid, nicht zu vergessen AnnenMayKantereit, Wanda oder Bilderbuch.

Highlight zum Jahresabschluss - lilly among clouds im Münchner AmpereMit kleinen Festivals wurde auch den sehr jungen Bands eine Bühne geboten und so sind die folgenden Bands und Künstler ganz besondere Goldstücke der Neuentdeckungen der letzten zehn Jahre: Lilly Among Clouds, The Whiskey Foundation, Samt, Umme Block, Tribes of Jizu, Liann, zweiraumsilke, Ralph Heidel und Homo Ludens, Ni Sala oder auch Ark Noir.

Eine solche Newcomer-Plattform bietet seit den 70er Jahren mitten in München das Theatron Pfingstfestival im Olympiapark. Jahr für Jahr sorgen hunderte Bands über Pfingsten und im Rahmen des Theatron Musiksommers sogar ganze drei Wochen allabendlich für gratis Live-Musik-Fieber auf der Seebühne.

10 Jahre Munich RocksAls Schlechtwetter-Option hat sich die Veranstaltung Munich Rocks in der Muffathalle durchgesetzt. Ein Besuch dieser ebenfalls kostenlosen Bandschau ist nicht zu unterschätzen, der größte Teil der oben genannten DurchstarterInnen war im letzten Jahrzehnt bei eben dieser Veranstaltung ins Scheinwerferlicht gerückt.

Wer sich nach Lagerfeuerfeeling und klammer Zeltatmosphäre sehnt, verbringt seit rund 30 Jahren jeden Sommer ein Wochenende auf dem Puch Open Air bei Dachau. Auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, wegen einer nicht enden wollenden Baustelle bei Freising, ist das Prima Leben & Stereo Festival. Wir hoffen auf ein baldiges Comeback!

Brass Wiesn 2019Den etablierten Pflichtterminen haben sich in den vergangenen Jahren erfreulicherweise so einige vielversprechende Festivals dazugesellt. Tief im bayerischen Hinterland wird in wunderschöner Atmosphäre auf dem Midsommar Festival für kleines Geld Sonnwend gefeiert. Zünftig geht es auf der Brass Wiesn zu. Zwischen Mundart-Tradition und Brass-Rapp werden auf diesem Festival die Blumenketten gegen Volksfest-Outfits getauscht. Zu nennen ist an dieser Stelle auch das Puls Open Air, das 2019 bereits zum vierten Mal in Folge das sommerliche Pendant zum Puls Indoor Festival beschreibt und mit brandaktueller Bandauswahl und gesellschaftspolitischen Ansprüchen, Workshops und Diskussionen nun jährlich viele tausend Besucher nach Schloss Kaltenberg lockt.

PULS Open AirSo rasant und dramatisch dieses Jahrzehnt auch fortgeschritten sein mag, das Fazit in Bezug auf die Musik-Festival-Kultur rund um München ist tatsächlich gar nicht so düster. Wenn Newcomerförderung großgeschrieben wird, altbewährte Veranstaltungen auch heute noch einen Namen haben und neue Formate sich aktiv mit gesellschaftspolitischen Schräglagen auseinandersetzen, können wir mit Pauken und Trompeten die nächsten zehn Jahre in Angriff nehmen. (A.E., P.P., ODI)

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