Wir schreiben das Frühjahr 2020. Ein perfides Virus hat die Welt fest im Griff, und Marius Müller-Westernhagen sitzt mit seiner Frau Lindiwe in Kapstadt fest. Ein Leben im Lockdown. Auf den Straßen patrouilliert Militär, um die Einhaltung der Ausgangssperre zu überwachen. Auf allen Kanälen Breaking News mit immer neuen Hiobsbotschaften zur Pandemie. Woche um Woche vergeht, ohne dass ein Ende in Sicht ist. Bleierne Schwere, zähe Monotonie.
Schweren Herzens muss Westernhagen eine lang geplante Tour absagen. Werden Auftritte je wieder möglich sein? In dem Singer/Songwriter beginnt es zu arbeiten. Tiefgreifende existenzielle Fragen treiben ihn um. Fragen zum eigenen Leben und zur gesellschaftlichen Lage. Vielleicht hat ein Künstler gerade in solchen Momenten die Pflicht zu reflektieren. Westernhagen, seit jeher ein politischer Mensch, kann jedenfalls nicht anders. »Jemand hat mal gesagt: Kunst kommt nicht von können, sondern von müssen. Und dieses Gefühl hatte ich auch.«
In welche Richtung ihn dieses Gefühl treibt, weiß er anfangs nicht. Doch davon lässt er sich nicht beirren. Das Schreiben hilft ihm beim Sortieren seiner Gedanken. Nach und nach nimmt der Selbstzweck konkrete Formen an. Westernhagen macht weiter, auch als er Kapstadt endlich verlassen und in seine Wahlheimat Berlin zurückkehren darf. Er schreibt und komponiert ohne Pause. Lässt es, wie er das formuliert, einfach geschehen. Es ist ein Ansatz, der sich seiner beispiellosen, nun schon mehr als fünf Jahrzehnte andauernden Karriere bewährt hat. »Damit kriegst du eine hohe Intensität und Wahrheit hin. Ich will mich in dem, was ich da vielleicht kreieren kann, auch spüren.«
In diesem Spüren entstehen schließlich die elf Songs zu seinem 23. Studioalbum »Das eine Leben«, das am 20. Mai erscheint. Es sind die ersten neuen Songs seit »Alphatier« vor acht Jahren. Dass ihm die Pause im Rückblick nicht so lang vorkommt, liegt auch daran, dass Westernhagen in der Zwischenzeit nicht untätig ist. 2016 spielt er eine »MTV Unplugged« Session ein. 2019 überarbeitet er in einer als Experiment angelegten Aufnahme seinen zum Kult-Status avancierten Klassiker »Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz«. Nur auf komplett neue Westernhagen-Stücke hofft man vergebens. Seine Begründung dafür ist ebenso plausibel wie naheliegend: »Gerade wenn du eine erfolgreiche Karriere hast, wird es ja immer schwieriger, glaubwürdig zu bleiben. Worüber schreibst du? Ich kann jetzt nicht wieder anfangen, aus der Arbeiterwelt zu erzählen wie zu Beginn. Das nimmt mir kein Mensch ab. Du bist vorsichtiger mit dem, was du sagst. Du reflektierst genauer. Ich schreibe dann, wenn ich denke, ich muss schreiben.«
Und so ist »Das eine Leben« Westernhagens schonungslos offener Einblick in seine derzeitige Seelenlage. Das Album handelt von Liebe und Vergänglichkeit, von Angst und Überforderung, von Wut und Verzweiflung. Es verhandelt Politisches wie Privates, Beiläufiges wie Zwingendes. Elegant schlägt der Singer/Songwriter dabei immer wieder den Bogen vom Persönlichen zum Gesellschaftlichen. Etwa direkt im Opener »Ich will raus hier«. Darin bekennt er zunächst freimütig: »Ich vermisse New York City, ich vermisse auch Paris, ich vermisse Rome so pretty, gottverdammte Pandemie.« Als engagierter Ausnahmekünstler, der er ist, belässt er es aber natürlich nicht bei seinem ganz individuellen Verzicht. Sich auf exklusive Befindlichkeiten zu verlegen wäre ihm schlichtweg zu banal. Deshalb beklagt er schon wenige Zeilen darauf: »Ich vermisse Mitgefühl mit denen, die noch vielmehr leiden, die leben müssen arm, bescheiden für die Kultur der Prahlerei.«
Die angeprangerte Kultur der Prahlerei und die damit verbundenen Schattenseiten sind zweifellos ein Thema, das den 73-Jährigen umtreibt. »Der Zustand der Welt heutzutage, der Zustand des Menschen hat eine Verrohung angenommen, die ein gesellschaftliches Problem ist. Es gibt keinen moralischen Kompass mehr. Alles hat sich umgedreht im Sinne des Kapitalismus und der Kommerzialisierung.« In diesem Kontext ist auch »Zeitgeist« zu verstehen, die ersten Singleauskopplung aus dem Album. Darin geht es um die Oberflächlichkeit und den Stumpfsinn der Generation Social Media. Welche Werte zählen in hedonistischen Zeiten? Ist ein auf Erkenntnisgewinn ausgelegter Diskurs darüber überhaupt noch möglich? Westernhagen gibt die Hoffnung jedenfalls nicht auf, wenn er fordert: »Auf die Barrikaden, das kann keinem schaden. Hinaus, hinaus auf hohe See.« Eine leise Befürchtung schwingt dabei trotzdem mit – nämlich die, dass die Haltung zur reinen Pose verkommt.
Erschreckend aktuell ist Westernhagen auch in »Spieglein, Spieglein an der Wand«, einem Song über Macht und Größenwahn. Darin heißt es: »Du wolltest mal die Welt verändern zum Bess’ren, wie sich wohl versteht. Und als dir das nicht mehr gereicht hat, das hat dir wohl den Kopf verdreht.« Es geht um die Sucht nach Aufmerksamkeit und um die Mechanismen, die diese Sucht begünstigen. Hier kommt Westernhagen nicht umhin, überdeutlich zu werden: »Du kriegst den Schleim nicht abgewaschen, den man dir auf dein Ego schmiert. Doch wahre Liebe, ewige Jugend, das wird Mephisto dir verwehr’n.« Dass falscher Zuspruch letztlich doch nur ins Leere führen, steht eben auf einem anderen Blatt. Sich als reine Rhetorik selbstentlarvend ist daher auch die Frage in der Hookline: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Mächtigste in diesem Land?«
Dass die Welt gänzlich aus den Fugen zu geraten droht, daran besteht kein Zweifel. Was also tun? In »Schnee von gestern« kommt Westernhagen zu einem ganz pragmatischen Schluss: »Jedem, dem in diesen Zeiten noch ein Hirn geblieben, kann sich nur nur besaufen und alle Menschen lieben.« Bewusst offen bleibt, ob dieser Rat als die totale Kapitulation oder die letzte Rettung verstanden werden muss.
Neben den politischen Themen zieht Marius Müller-Westernhagen auf »Das eine Leben« aber auch ganz persönlich Bilanz. Dabei gibt er sich uneitel und selbstkritisch wie nie zuvor. In »Die Wahrheit«, einer von Piano und Streichern getragenen Ballade, bekennt er: »Vieles was ich tat, war nicht gewollt. Ich tat es, weil die andern fanden’s toll. Korrupter König in ’nem Land der Blinden versucht ein Leben lang, sich selbst zu finden.« Mit der eigenen Vergänglichkeit setzt sich Westernhagen in dem düsteren »Achterbahngedanken« auseinander. Darin singt er von Krankenhausgestalten am lebensverlängernden Tropf und von der Zeit, die wie Sand verrinnt, nur um am Ende festzustellen: »Das Leben ist das Leben, und eh du dich versiehst, ist es das auch schon gewesen.«
Für die Aufnahmen zu »Das eine Leben« ist Westernhagen eigens in die USA gereist. Dort ging er mit einer Handvoll Musiker um den Grammy-prämierten Produzenten und Multi-Instrumentalisten Larry Campbell ins Studio. Es ist nicht das erste Mal, dass Westernhagen mit Campbell gemeinsame Sache macht. 2009 lernten sich die beiden bei den Aufnahmen zu Westernhagens Blues-Album »Williamsburg« kennen. Und auch beim Pfefferminz-Experiment arbeiteten sie zusammen. Campbell, der jahrelang für Bob Dylan spielte, gilt als einer der besten Gitarristen der Welt. Und weil er sich niemandem mehr beweisen muss, spielt er ausschließlich für den Song – und damit ganz in Westernhagens Sinne. »Gute Musiker spielen mit Demut und Bescheidenheit. Das ist einfach berührender und ehrlicher.«
Und so ist »Das eine Leben« mehr als eine reine Momentaufnahme, mehr als Westernhagens ganz persönliches Covid Diary. Es ist das musikalische Psychogramm eines Ausnahmekünstlers, dessen Einzigartigkeit für sich steht und dessen Werk mit seinem Anspruch auf Relevanz über jeden Zweifel erhaben ist.