Zurück zu den Wurzeln – Live-Musik nach der Coronakrise

Theatron Pfingst Festival 2019

Eine Zukunftsvision

Nach einem Blick auf die Veranstaltungsseiten im Internet sieht eigentlich alles ganz normal aus. Die angesagtesten Acts sind wieder auf Tour, in allen möglichen Ländern. Beim genaueren Hinsehen fällt aber auf, dass sich die Anzahl der Auftritte drastisch reduziert hat und so finden nur noch eine Handvoll Termine statt. Bei noch intensiverem Studium der Veranstaltungsdetails bemerkt man das Wort „Sendetermin“ und zieht die Stirn kraus.

„Niemand will mehr in einen Konzertsaal gehen, wo die Viren doch nur so gedeihen und man sich mit tausend anderen um die beste Sicht streiten muss“, so Max Mumann, ehemaliger Eventmanager. „Darauf mussten wir reagieren und bieten mittlerweile ein breites Angebot an Online-Konzerten, Digital-Theatre und – darauf sind wir besonders stolz – VR-Musicals an. Je nachdem, wie gefragt der Künstler ist, kann man die Show ganz bequem im Abo bestellen oder sich eben für 24 Stunden ausleihen und dabei so oft gucken wie man möchte.“

Max arbeitet mittlerweile bei einem der namhaftesten Streamingdienste weltweit. Nicht zu vernachlässigen sei auch der Wunsch, nicht ewig darauf warten zu müssen, bis die Lieblingsband endlich wieder in die Stadt kommt. „Smart TV an, Show bestellen und fertig“. Wer ein Konzert lieber mit Freunden besucht, muss auch hier nicht zurückstecken. „Wir haben viele Alternativen, wie zum Beispiel unser „Friends-Special“: pro Buchung erhält man eine Kiste Tafelwein oder zwei Sixpacks Pils und zwei Tüten Chips, welche gratis nach Hause geliefert werden. Wenn man zwei Konzerte oder mehr bucht, erhält man sogar eine Flasche Cola extra“, erzählt Mumann nicht ganz ohne Stolz.

Auf die Frage, ob sie die Reaktionen aus dem Publikum nicht vermisse, entgegnet Jane Doe indes: „Ach daran gewöhnt man sich. Jeder Zuschauer hat ja die Möglichkeit, in der Kommentarspalte ein Feedback zu geben.“

Jane war früher mal freiberufliche Musikerin und mit ihrer Band im In- und Ausland unterwegs. „Wenn ich an diese Zeit zurückdenke…“, grübelt Jane, „gerate ich schon noch manchmal ins Schwärmen. Meistens feierten die Leute das ganze schon sehr und wir hatten auch Fans, die Autogramme haben wollten. Je nachdem in welchem Land wir aufgetreten sind, war die Stimmung mehr oder weniger intensiv, teilweise konnten die Leute jedes Lied mitsingen.“

Jane ist heute halbtags beschäftigt als Künstlerbetreuerin und Kollegin von Max. „Da die Aufzeichnung oder der Livestream der Events maximal einen Abend lang dauert, gibt es halt nicht mehr Arbeit für mich. Klar, manchmal nehme ich das Catering für die Bands entgegen und beantworte Fanfragen im Live-Chat. Hin und wieder haben die Leute auch ein Problem beim Herunterladen der Druckvorlagen für die Bandshirts, aber sonst passiert nicht viel.“

Auf die Frage, ob die finanzielle Situation Dinge wie Essengehen oder Urlaub zulassen würde, zuckt die sympathische 28jährige nur mit den Schultern. „Klar, den Gürtel müssen wir Ex-Livemusiker schon enger schnallen. Hätte ich es früher gewusst, ich hätte mein Studium auch gleich in einen systemrelevanten Job investiert.“

Tommy M. war mal Tontechniker. Jetzt ist er arbeitslos. Noch vor zwei Jahren war er im Schnitt auf sechs bis sieben Tourneen als Soundengineer im Einsatz, was sein Leben und das seiner Frau und den beiden Kindern sehr gut finanzierte.

„Meine Güte, natürlich wurden auch mal ein oder zwei Veranstaltungen verschoben, aber dafür hatte man ja genügend Rücklagen. Die sind mittlerweile für Strom, Miete und Schulbücher längst futsch.“

Einen neuen Job hat Tommy bisher nicht gefunden. „Live-Veranstaltungen gibt es ja keine mehr, seitdem alle in Streaming machen…“, ärgert er sich. „Mittlerweile habe ich über hundert Bewerbungen rausgejagt, aber meine Ausbildung wird als „nicht notwendig“ eingestuft.“

Seitdem die meisten Künstler auf Homerecording und direkten Upload ins Netz zurückgreifen, bekomme er keinen Fuß mehr in die Tür. „Ich habe auch versucht, als Vorführer in einem Kino anzufangen, aber die stellen niemand mehr ein, weil kaum noch jemand Filme in einem großen Saal anschauen will, vor lauter Angst sich wieder mit irgendeiner Krankheit anzustecken.“

Zurück in die Gegenwart

Dieser Tage wirft man ganz automatisch und aufgrund kaum vorhandener Alternativen in Sachen Freizeitgestaltung, schon mal öfter den Blick auf diverse Social Media-Plattformen als üblich. Neben allerlei Gerüchten, die in so mancher Verschwörungstheorie- oder Hypochondrieküche vor sich hin köcheln, gehen aber auch Künstler mit Livevorträgen im Netz – nun ja – viral. Das gab es auch schon früher mal, quasi als Spezialangebot kurz vor Weihnachten.

Und mal ganz ehrlich: Covid-19 hat es für diese Entwicklung nicht gebraucht, auch wenn dieser Virus gerade in den vergangenen Wochen so manche Entscheidung und damit auch diverse Veränderungen beschleunigt hat. Man muss in Zeiten wie diesen auch das Positive sehen. Im besten Fall verändert sich das globale Konsumverhalten dahingehend, dass man künftig mehr auf regionale Produkte setzt und sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen mehr Respekt entgegenbringt. Und auch die Umwelt erhält eine ungewollte Verschnaufpause, weil für einen begrenzten, aber nicht einzugrenzenden Zeitraum keine Flugzeuge mehr um den Globus fliegen und keine Kreuzfahrtschiffe mehr über die Ozeane schippern. Und vielleicht, ganz vielleicht freuen wir uns in unserer luxuriösen Vorstellung von dem, was das Leben lebenswert macht, einfach wieder auf einen normalen Zustand.

Natürlich gibt es in diesen Zeiten auch Kriegsgewinnler, die ganz objektiv gesehen, einfach zur richtigen Zeit den Bedarf der krisengebeutelten Nation durch ihre Dienstleistung decken. Das haben sie schon immer gemacht, jetzt eben in besonderem Maße. Online-Shopping und Videostreaming – nie war es so einladend wie heute.

Letzteres feierte eine Art wohlgemeinten Hype, als diverse Newcomer-Bands und Solomusiker gefühlvolle Songs über Handykameras in die digitale Welt der sozialen Netzwerke entließen, einfach um eine Stimmung des Zusammenhaltens zu erzeugen. Schöne Idee, klar. Mit authentischer Empathie war es aber schon nach wenigen Stunden wieder vorbei, als die ersten Corona- und Toilettenpapier-Lieder das Licht der Welt erblickten und nun seit Wochen in der Dauerschleife gebounced werden. Das hat wirklich nicht viel mit gutbürgerlicher Spießigkeit zu tun, wenn das nicht jedermanns Geschmack ist. Immerhin – und bei allen Debatten wie gefährlich dieser Virus nun wirklich ist – es sind schon Menschen daran gestorben und damit ist es an Niedertracht kaum zu überbieten, hieraus Profit zu schlagen. So geschehen, als auf Facebook die ersten Werbeanzeigen für Merchandise mit lustigen Corona-Sprüchen auftauchten.

Fast genauso schnell trudelten Einladungen für Online-Konzerte per Messanger ein, zunächst von einzelnen Künstlern, später dann über Agenturen, welche die ersten „Wir-Bleiben-Zuhause-Festivals“ in diesem Format ankündigten und nun auch das massentaugliche Mainstreamfernsehen. Auf Pro 7 fand unlängst das „Wohnzimmer-Festival“ statt, bei welchem neben vielen, sehr bekannten Acts, eben auch eine Münchner Newcomer-Hoffnung mitmischte. Werbepausen und Einschaltquoten inklusive.

Selbstredend sollten von solch einem Format die – wie immer – stimmlosen, im Selbstmanagement und Eigenvertrieb befindlichen Künstler profitieren. Tun sie aber nicht, denn die Zielgruppe ist im wirklichen Leben schon nicht lohnenswert und es sind kaum anständige Gagen zu erzielen.  Musik lässt sich im Untergrund ja auch selten gewinnbringend über Spotify und co. vermarkten, wenn überhaupt, dann helfen die CD-Verkäufe vom Bühnenrand weg eher das Produkt der eigenen Kreativität mit ein wenig Umsatz auf den Markt zu werfen.

Wie wird die Welt nach der Krise aussehen, wenn jeder wieder brav im Büro, im Geschäft, in der Praxis oder wo auch immer, sein Pensum an Arbeit erbracht hat? Wenn aber auch kleinere Unternehmer, die keine „unbedingt notwendigen“ Arbeiten verrichten, keinen Platz mehr auf dem Markt besitzen? Reden wir in diesem Zusammenhang von kleineren Konzertbetreiben, Locations, freiberuflichen Tontechnikern, Bühnenbauern, Lichttechnikern, die Musiker selbst, die Zulieferer… Dann wird sich vielleicht ein smarter Manager einer ollen TV-Produktionsfirma dessen entsinnen, was nun ohnehin schon bestens erprobt und für erfolgreich befunden wurde: vielleicht werden Veranstaltungen, die so  lange und so gut nur deswegen als unvergessliche Erlebnisse stattgefunden haben, weil sie in der Gemeinschaft passierten bequem über einen Streamingdienst angeboten? Es würde irgendwie nicht überraschen. Seitdem Musik wie ein Wegwerfprodukt für 10 € im Monat in der Flatrate bezogen werden kann und physische Tonträger nur noch an Liebhaber und die treuesten Fans verkauft werden.

Und warum sollte dann noch jemand ernsthaft in Erwägung ziehen, weiterhin ein Heidengeld für ein Ticket auszugeben? Warum sollte man nach einem harten Arbeitstag noch in eine überfüllte Halle gehen, wo man doch allen möglichen Bazillen schutzlos ausgeliefert ist und viel zu spät nach Hause und ins Bett kommt? Warum sollte man viel zu teure Getränke an einer dichtgedrängten Bar kaufen, wo man doch zu Hause einen gefüllten Kühlschrank ein paar Meter entfernt von der Couch stehen hat? Warum sollte man sich vor Ort ein Tourshirt kaufen, wenn man sich dieses doch versandkostenfrei im enthaltenen Streaming-Abo für kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte, Theater und Musicals zuschicken lassen kann? Ein Kenner der Szene wird wissen, wie viele verschiedene Arbeitsplätze an diesen „nicht notwendigen“ Veranstaltungen hängen, deren Stelleninhaber eben diese als sehr notwendig empfinden dürften.

Man möchte positiv in die Zukunft blicken. Ein großer Teil der Weltbevölkerung hat sich seit vielen Dekaden mit weitaus größeren Problemen zu beschäftigen und verliert tagtäglich die Existenzgrundlagen aufgrund von Kriegen, Hungersnöten und Naturkatastrophen. Dieser kleine, hässliche Virus nun sabotiert die Ordnung der ansonsten so kultivierten, westlichen Welt und sorgt auch hierzulande für Verhaltensmuster am Rande des Erträglichen. Da hamstern die einen Vorräte und hinterlassen eine Spur der Verwüstung in leeren Supermarktregalen, während andere ihre Chance auf schnellen Reichtum durch den Verkauf von medizinischen, in beispielsweise Italien dringend benötigten Artikeln per Internet-Auktionshaus sehen.

Es ist verständlich, dass wir in unserer kapitalisierten Gesellschaft nur schwer auf liebgewonnene Kulturgüter wie Fußballspiele, Feierabendbiere und öffentliche Veranstaltungen verzichten wollen. Der Ausverkauf dieser, oft die Lebensart bestimmenden Dinge schmerzt schon jetzt, ein wie oben beschriebenes Szenario darf es nicht geben. Man sollte sich vielleicht in Geduld üben und schon bald wieder gemeinschaftlich Lieblingssongs Mitgrölen, zusammen mit seiner Begleitung vor Freude zusammenzucken, wenn die Lichter in der Halle gedimmt werden und das Intro ertönt, mit hunderten anderen an einer Bar 15 Minuten für ein Bier anstehen und dabei mit wildfremden Menschen ins Gespräch kommen und gemeinschaftlich den Künstlern mit Jubel und in die Luft gereckten Armen und Feuerzeuglichtern für ein Livekonzert danken und mit einem pfeifenden Geräusch im Ohr und vielleicht einem kleinen Rausch im Kopf ins Bett fallen und völlig übermüdet am nächsten Morgen in die Arbeit gehen. Man sollte vielleicht nicht stumm den Massen folgen und ungefiltert mitstreamen und die Welt im schlimmsten Fall noch mehr digitalisieren. Bitte nicht!

Vielleicht wird es am Ende dieser Tragödie ein Happy End geben, die Wirtschaft wird sich erholen und das Gesundheitssystem für einen nächsten Angriff in ähnlicher Form gut gerüstet sein. Und vielleicht wird es ein Revival für die ambitionierten, unbekannten Künstler geben. Hautnah und echt.(ODI)