Nach einem grenzwertig gewöhnlichen Support-Auftritt des Rappers Estikay, der bei Sidos Berliner Label Goldzweig unter Vertrag ist, haut mich Sido schlicht aus den Sneakers. Aber von Anfang an: Mit Songzeilen wie „Denn ganz egal was du machst. Ganz egal was du tust. Die Hauptsache ist, was du machst, machst du gut“ bedient sich der offensichtliche Aston-Martin-Fan nicht gerade aus der Genieschublade. Estikay heizt dem Zelt angemessen ein, aber er macht Rap auf Durchschnitts-Niveau – nicht schlecht, nicht gut, es reicht.
Eine ganz andere Schiene fährt nach einer kurzen Pause dann Sido: Durchschnitt ist hier ganz und gar nicht angesagt. Innerhalb nur eines Songs hat er es geschafft, mich, überzeugte Rap-Verweigerin, zum Bleiben zu bewegen. Sido zaubert und kann machen, dass mir Rap Spaß macht. Daher meine Käse-Analogie: Sido ist wie guter Wein oder eben Käse – je reifer, desto besser schmeckt er dem Conaisseur. Und nichts an ihm ist einfach normal: Sein Auftritt ist endlos sympathisch, aber todeslässig. Seine Lieder sind Rap, aber wunderschön und voller Inhalt und sein Look ist Gangster, aber das Gegenteil von ungepflegt.
Sido hat mit dem Alter diverse Gänge zugelegt und ist stetig besser geworden. Dass er seine angestammten Fans mitgenommen und junges Gemüse dazu gewonnen hat, fällt ihm selbst auf: „Ich sehe hier einige Zahnspangen, die mich aus dem Publikum anglitzern – und ganz schön viele sehr alte Leute im Publikum!“ Auch seine Klassiker haben den Sprung in die Gegenwart bestens überstanden und sind aktueller denn je. „Der Himmel soll warten“ und „Leben vor dem Tod“ entfalten im Tollwood-Zelt eine hymnenartige Wirkung und berühren mich so sehr, dass ich zudem noch Überraschung empfinde.
Sound- und Lichttechnik sind vom Feinsten und leisten ihr Übriges. Zugegeben: Sidos Gesang wird zwar, schuld sind wohl etwas heisere Stimmbänder, von seinem Band-Ich unterstützt, die Bühnenshow ist aber makellos und eine Videoübertragung auf mehrere Bildschirme lässt auch die hinteren Reihen mitfiebern. Eingängige Melodien und coole Rhythmen machen Sidos Musik aus. Auf diesem Konzert bewirkt er damit eine unerklärliche Melancholie, Aufbruchstimmung und ein sattes Gefühl von innerem Frieden. Wie? Ich weiß es nicht.
Was ich weiß ist, dass es Sido geschafft hat, dass mir das Genre an diesem Abend ganz unerwartet Spaß macht und die Lust auf Neues geweckt hat. Sogar Klischees aus der Rapper-Trickkiste werden dabei zum echten Stilmittel. Paul Hartmut Würdig raucht mal eben auf der Bühne frische Luft aus der Tüte und fragt begeisterte Lacher mit einem lausbübischen Grinsen: „Was denn?“ Einen auf die Stage flatternden Zettel kommentiert der inzwischen Graubärtige mit „Hier wurde einer mit Gras erwischt vor der Tür. Egal, was das kostet, ich zahl‘ das.“ Platt? Vielleicht. Bei Sido aber wirklich authentisch.
Die Nächstenliebe ist ihm offenkundig ein Anliegen und das ewige Hadern des Menschen mit sich selbst ist auch heute Abend ein Thema. Der Song „Zu wahr“ (mit der erstaunlich zeitgemäßen Zeile „Es ist zu wahr, um schön zu sein“) geht in einen ergreifenden Moment über. Denn der Aufforderung, dass alle ihre Hände hochnehmen für den Versuch, ein guter Mensch zu sein, folgt ausnahmslos das ganze Zelt und für wenige Augenblicke scheint die Zeit stillzustehen.
Mit scheinbar autobiografischen Liedern wie „Papa ist da“ und emotionalen Ansprachen wie in „Du musst auf dein Herz hören“ zeigt sich Sido an diesem Abend auch von seiner sensiblen Seite. Ganz anders als erwartet und das Gegenteil von Durchschnitt wird Sidos Konzertabend für mich zum authentischen Musikerlebnis. Da steht ein scheinbar böser Junge auf der Bühne, den man einfach liebhaben muss. Wie sonst könnte er es schaffen, das Publikum auf Weltstar-Niveau zum Ausflippen zu bringen? Ich jedenfalls durfte das beste Konzert seit Langem erleben und bin jetzt Fan. (S.N.)